Gastvortrag: Warum die Muhme keinen Gauch mehr hört

Professor Dr. Rudi Keller referiert am Lessing über Sprachwandel

Sprache ist ein lebendiges, sich ständig veränderndes System. Deshalb kennt heute kaum noch jemand die Muhme (Tante) und man hört den Kuckuck, nicht den Gauch. Professor Dr. Keller beobachtet seit Jahren als Linguist solche Veränderungen und legte das Thema Sprachwandel den Schülern und Schülerinnen der Q1 und Q2 des Lessing- Gymnasiums am 19.03.2018 in einem unterhaltsamen Vortrag dar. Der renommierte Sprachwissenschaftler begegnete den Abiturienten von 2014 schon im Zentralabitur als Autor. Damals brüteten die Schüler in der Deutschklausur über dem Thema: „Ist die deutsche Sprache vom Verfall bedroht?“  Die Teilnehmer am Vortrag in der Aula waren da wesentlich entspannter. Sprachwandel ist für die kommenden Abiturienten immer noch ein – oft ungeliebtes – Pflichtthema im Zentralabitur Deutsch. Zu Unrecht, wie der emeritierte Düsseldorfer Professor in seinem fesselnden Vortrag bewies.

Vieles verändert sich in der Sprache, auch wenn keiner genau weiß, wann und warum. Lange glaubte man, dass die Sprache sich ändert, wenn die Welt sich ändert. Diese Erklärung greift aber zu kurz, wie Prof. Dr. Keller leicht nachweisen konnte. So spricht man auch in Zeiten digitaler Medien immer noch vom  Filme „drehen“  und das altgermanische Wort „Boot“ hat alle nautischen Weiterentwicklungen überlebt. Umgekehrt sind Wörter wie Muhme und Base weitgehend verschwunden, obwohl es die Tanten immer noch gibt und man sie jetzt nicht mehr in Tante mütterlicherseits und väterlicherseits unterscheiden kann.

Mit Goethe würden wir uns heute nicht gut verstehen

Sehr anschaulich zeigte der Linguist auf, wie viele Begriffe ihre Bedeutung gewandelt haben im Laufe der Jahrhunderte. Schon die Kommunikation mit Goethe wäre heute schwierig. Goethe hätte die Schüler vielleicht aufgefordert, an seinem Vortrag „gemütlich teilzunehmen“ und dabei nicht gemeint, dass die Zuhörer es sich bequem machen sollen. Vielleicht hätte er auch die „billigen“ Klamotten mancher Schüler gelobt, denn „billig“ hieß damals „anständig“. Sehr gut verstanden hätten sich heutige Schüler mit Goethe dagegen beim Thema Rechtschreibung – die war einem Herrn Goethe nämlich ziemlich egal. Deren Regeln wurden erst viel später festgelegt.

Geht Sprachwandel mit einem Kulturverlust einher?

Aber nicht nur bestehende Wörter und Regeln ändern sich. Neue Wörter kommen hinzu, heute vor allem aus dem Englischen. Angesichts der vielen Anglizismen und dem allgegenwärtigen „Denglisch“ sehen viele im Sprachwandel einen Sprachverfall. Ob damit nicht ein Kulturverlust einhergehe, wollte ein Schüler im Anschluss an Professor Kellers Referat wissen. „Nein“, urteilt der Professor. Im Gegenteil. Am Englischen könne man sehen, wie „eingewanderte“ Wörter aus anderen Sprachen eine Sprache beleben und bereichern. Im Englischen gebe es viele Wörter quasi „doppelt“, oft als französisches Lehnwort und als deutsches. „Liberty“ (französisch entlehnt) und „freedom“ (aus dem Deutschen stammend) sind Beispiele dafür, genauso wie „safety“ und „security“ oder „calf“ und „veal“. Circa die Hälfte aller englischen Nomen sei „doppelt“ besetzt, meint der Professor. Dabei werden die „doppelten Wörter“ meist mit einer kleinen, aber feinen Unterscheidung des Begriffs gebraucht. Eine Bereicherung im Ausdruck also, kein Verlust!